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Schluss mit der Ausbeutung!

Ausbeutung als Verfassungsgrundsatz? Jürgen Siebert fordert die endgültige Abschaffung unbezahlter Praktika.

Ausbeutung als Verfassungsgrundsatz? Jürgen Siebert fordert die endgültige Abschaffung unbezahlter Praktika. 

Der Begriff »Generation Praktikum« erreichte bei der Wahl zum Wort des Jahres 2006 den zweiten Platz (nach »Fanmeile«) und bezeichnet bis heute einen gesell­schaft­lichen Skandal ersten Ranges in Deutschland. Eigentlich handelt es sich dabei um ein Unwort, vor allem mit Blick auf die Kreativ- und Kulturszene. Erstmals hat »ZEIT«-Autor Matthias Stolz Anfang 2005 einen Artikel mit der Formel überschrieben. Er schilderte das Schicksal einer jun­gen Generation, die zunehmend un- oder minderbezahlten Tätigkeiten in ungesicherten beruflichen Verhältnissen nachgehen müsse.

Der von der großen Koalition be­schlos­sene Mindestlohn soll »das Modell der ›Ge­neration Praktikum‹ endgültig beenden«, unterstrich Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles Anfang Juni in einem Interview mit der »WELT«. Ab 1. Januar 2017 gilt für sämtliche Branchen und für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab dem Alter von 18 Jahren ein Mindestlohn von 8,50 Euro. Ausnahmen für Praktikanten schloss die SPD-Politikerin bereits aus, es sei denn, sie absol­vier­ten ein Pflicht- oder ein freiwilliges Praktikum, das auf sechs Wochen befristet ist.

Und auf einmal geht das Gejammer los, in Agenturen, Theatern, Verlagen und bei Musiklabels. Der »Spiegel« fasste es so zu­sammen: »Viele Unternehmen der Kultur- und Medienindustrie befürchten, sich die geforderten 8,50 Euro Stundenlohn nicht leisten zu können.« Und so haben Intendanten, Verlagsmanager und Musikunter­nehmer angekündigt, künftig einfach kei­ne freiwilligen Praktika mehr anzubie­ten.

Der »Spiegel« zitiert auch eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbunds, nach der zwei Drittel der Hochschulabsolventen, die im Bereich Kunst und Kultur ein Praktikum machten, kein Geld für ihre Ar­beit bekämen. Keine andere Branche pro­fitiert derart rücksichtslos vom Idealismus und der Fremdfinanzierung ihres Nachwuchses. Oder auf gut Deutsch: Viele Unternehmen haben sich über Jahre gemütlich eingerichtet und nutzen ihre Probejobber als billige Lebensversicherung. Sie mögen zugrunde gehen mit ihrem maroden Geschäftsmodell!

Jetzt, wo die Tätigkeit der Jobeinsteiger angemessen vergütet werden soll, zeigen diese Arbeitgeber ihr wahres Gesicht. Das Berliner Ensemble lässt sich nicht nur jähr­lich mit 10,7 Millionen Euro aus der Landeskasse subventionieren, sondern auch von 25 Praktikanten, die jetzt ab 2015 abgeschafft werden sollen. Der Berliner Suhrkamp Verlag hält seine 4 Hilfsjobber für nicht mehr finanzierbar, wohl aber den Rechtsstreit mit seinem Gesellschafter Hans Barlach, bei dem bereits Hundert­tausende von Euro verbrannt wurden. Die Zeitungsverleger drohen laut »Handelsblatt« sogar mit einer Verfassungsklage gegen den Mindestlohn, weil sie (wieder mal) die Pressefreiheit in Gefahr sehen; sie fordern Ausnahmeregelungen für Prak­tikanten und Zusteller.

Ausbeutung als Verfassungsgrundsatz? Da werde ich glatt wieder zum Marxisten, trotz meines gesetzten Alters. Schämt ihr euch eigentlich gar nicht, ihr Intendanten, Verleger und Medienheinis, in euren durch­designten Chefetagen? Die deutsche Wirtschaft brummt gerade wie nie, und nun soll ein Mindestlohn Kultur und Me­di­en zum Platzen bringen? Viel zu lange habt ihr auf die feige Blutsaugerei gesetzt.

Nein, keine weiteren Ausnahmen vom Mindestlohn! Schon die geplanten sind fragwürdig, etwa die für Langzeitarbeits­lose. Die Absicht ist sicherlich edel, nämlich Menschen in Arbeit zu bringen, indem man sie günstig anbietet. Doch das Ergeb­nis ist erneut entwürdigend, weil keiner vom verdienten Geld alleine leben kann.

Schluss mit der Ausbeutung von Prak­ti­kanten! Bei Nahles’ Initiative geht es um nichts anderes als um Menschenwürde und Gerechtigkeit. Wenn der Mindest­lohn glaub­haft Fairness schaffen will, muss er auch für Praktikanten gelten. Gelingt das nicht, hat der Mindestlohn sein Ziel bereits vor dem Start verfehlt.

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